Eine bildliche Metapher der elektronischen Zahlungsvorgänge, die hinter den Target-Salden stehen, lautet so: Der Süden druckt sich das Geld, das er braucht, um im Norden Güter und Vermögensobjekte zu kaufen sowie alte Schuldscheine einzulösen, und die Notenbanken des Nordens schreddern das vorher schon ausgegebene Geld, weil es als Schmiermittel für die inländischen Transaktionen nicht mehr benötigt wird. Es wird also quasi die (elektronische) Druckerpresse vom Norden an den Süden verliehen, was die Target-Forderungen und -Verbindlichkeiten begründet.
Der Verleih der Druckerpresse impliziert erhebliche Haftungsrisiken. Sollte der Euro zerbrechen, lösen sich die Target-Forderungen in Luft auf, während die Schuldscheine, Vermögensobjekte und Güter, die gegen das aus dem Ausland überwiesene Geld verkauft wurden, im Ausland verbleiben.
Nach wie vor sind die Länder Südeuropas völlig überteuert und meilenweit von Wettbewerbsfähigkeit entfernt:
Im Übrigen ist die Fluchthelfer-Interpretation der Target-Salden und der hinter ihnen stehenden Sonderkredite der Notenbanken der Krisenländer nur eine mögliche Interpretation des Geschehens. Sie hatte zur Zeit der Lehman-Krise ihre Berechtigung, denn die Target-Kredite halfen, die Liquiditätskrise des Euroraums zu überwinden. Danach freilich stellen sich die Dinge gänzlich anders dar. Als die Weltwirtschaft im Winter 2009/2010 schon kräftig boomte und der Interbankenmarkt wieder in Gang gekommen war, konnten die meisten Krisenländer zwar abermals Kredit aufnehmen, aber nur zu höheren Zinsen, als sie es gewohnt waren, weil die Kapitalmärkte Insolvenzgefahren vermuteten und entsprechende Risikoprämien verlangten. In dieser Situation entschloss sich der EZB-Rat, die lokalen Druckerpressen durch die erwähnte Absenkung der Sicherheitsstandards für Refinanzierungskredite in Stellung zu bringen und den nationalen Notenbanken die Möglichkeit zur Unterbietung der Kapitalmärkte zu gewähren.
Die EZB bot den Banken der Krisenländer eine Kombination von Kreditlaufzeit (bis zu einem Jahr, später sogar bis zu drei Jahren), Zinsen (1 Prozent, später gar nur 0,5 Prozent) und Pfandqualität (zum Beispiel die Akzeptanz von nicht gehandelten ABS-Papieren oder Staatspapieren mit Schrottstatus) an, mit der die Banken der noch gesunden Länder bei der Kreditvergabe nicht mehr mithalten konnten. So gesehen, schlugen die Druckerpressen des Südens die internationalen Kapitalanleger in dieser Zeit eher in die Flucht, als dass sie ihnen die Flucht ermöglicht hätten. Mario Draghi hatte für einen seiner Großangriffe auf die private Konkurrenz sogar den Begriff der „Dicken Bertha" gewählt, eines im Ersten Weltkrieg benutzten Mörsers.
Die Unterbietung des Kapitalmarktes mit der Druckerpresse ist heute der Hauptgrund dafür, dass die deutschen Banken und Versicherer keine risikoadäquaten Zinsen mehr verdienen können und die Versicherer sogar gezwungen sind, ihre Zinsgarantien zu widerrufen.
Deutschland ist per Saldo kein Kreditnehmer, sondern ein Kreditgeber!
Manchmal werden die Vorteile betont, die die Zinssenkung für Deutschlands Kreditnehmer bedeutet. Indes ist Deutschland per Saldo kein Kreditnehmer, sondern ein Kreditgeber, denn es ist ein Nettogläubiger des Restes der Welt. Ja, es ist derzeit sogar der größte Kapitalexporteur noch vor China. Daher ist unser Land der große Verlierer der Zinssenkung, während die Krisenländer, die allesamt Nettoschuldner sind, zu den klaren Gewinnern gehören.
Die EZB betätigt sich als Einkaufsorganisation für deutsche Ersparnisse, die diese Ersparnisse zu Konditionen bedient und an die Krisenländer weiterverteilt, die sie selbst für angemessen hält. Nach dem gleichen Muster könnten wir demnächst etwa eine EU-gesteuerte Einkaufsorganisation für den Weiterverkauf deutscher Autos zu gerechten Preisen nach Südeuropa gründen und die damit fallenden Autopreise als Vorteil für die deutschen Verbraucher bejubeln.
Die Aktionen der EZB und die Hilfskredite der Staatengemeinschaft ließen die Vermögenseinkommen, die von den Krisenländern netto an das Ausland zu zahlen waren, im Verlauf der Krise fallen, obwohl die Märkte immer höhere Zinsen verlangten und die Auslandsschulden der Krisenländer kräftig anstiegen. Der Zinsvorteil, den die Krisenländer in den Jahren 2008 bis 2012 im Vergleich zu einer Beibehaltung der Zinssätze von 2007 erzielten, betrug 205 Milliarden Euro. Umgekehrt hatte Deutschland nach einer ähnlichen Rechnung einen Zinsnachteil von 203 Milliarden Euro. Es ist nicht ganz falsch, in diesem Zusammenhang von einer Enteignung der deutschen Sparer durch die Niedrigzinskonkurrenz mit der Druckerpresse zu reden.
Im EZB-Rat wird Deutschland seit Mai 2010 laufend überstimmt.
Falsch ist es wohl auch nicht, von Investitionslenkung zu reden. Nachdem die privaten Investoren erkannt hatten, dass viel von dem Kapital, das sie unter dem Schutz des Euro und angestachelt von den Regulierungssystemen nach Südeuropa getragen hatten, bei den Staaten und im Immobiliensektor verbrannte, haben sie versucht, ihre Portfolios neu zu strukturieren. Unter anderem haben sie sich wieder auf deutsche Immobilien besonnen und nach vielen Jahren der Flaute den hiesigen Bauboom der letzten drei Jahre erzeugt. Diese Neuorientierung der Portfolios scheint der EU und der EZB freilich ein Dorn im Auge zu sein. Deswegen wurde ein öffentlicher Kapitalfluss über die EZB und die Staatengemeinschaft organisiert, der an die Stelle des privaten Kapitalflusses getreten ist. Damit wird die Fehlallokation (Zuordnung von beschränkten Ressourcen zu potentiellen Verwendern) des europäischen Sparkapitals, die der Eurozone im letzten Jahrzehnt bereits das niedrigste Wachstum aller Großregionen der Welt gebracht hat, perpetuiert (Aufrechterhaltung und Fortdauer eines Zustandes). Kapital wird auch weiterhin verbrannt werden.
Die Kredite aus der Druckerpresse, die durch die Target-Salden gemessen werden, sind der wichtigste Teil der Rettungsaktionen der EZB, mit dem die Euro-Krise bislang in Schach gehalten wurde. Sie dienten der Finanzierung der Staaten und der privaten Wirtschaft durch das Bankensystem. Man kann lange darüber streiten, ob diese Kredite ökonomisch berechtigt waren oder nicht. Fest steht nur, dass die schwierige Abwägung zwischen den Chancen und Risiken, insbesondere die Beurteilung der Verteilungswirkungen zwischen den Völkern Europas nicht von den Parlamenten vorgenommen wurde, sondern vom EZB-Rat, einem technokratischen Gremium, in dem Deutschland nicht mehr Gewicht hat als Malta und Zypern und in dem es seit Mai 2010 laufend überstimmt wird.
Die Entscheidungen dieses Rates haben in eklatantem Widerspruch zu Artikel 125 des EU-Vertrages ein gewaltiges Volumen an öffentlichen Krediten und Haftungsversprechen der EZB zugunsten der Banken und Staaten Südeuropas in Bewegung gesetzt, das nun die EZB selbst gefährdet. Die Abschreibungsrisiken könnten das Eigenkapital des EZB-Systems, das bei 500 Milliarden Euro liegt, übersteigen. Auch wenn eine Notenbank technisch mit negativem Eigenkapital weiterarbeiten kann, weil ihr wahres Kapital im Wert der Zinsansprüche aus dem Verleih des selbstgemachten Geldes besteht, wäre der Verlust auch nur eines Teils dieser Summe ein verheerendes Signal für die Kapitalmärkte. Da die Target-Salden schon mal deutlich höher lagen, hat sich bei manchen das Gefühl der Entwarnung verbreitet.
Summiert man die Staatspapierkäufe durch die Notenbanken der noch gesunden Länder des Euroraums mit den vom EZB-Rat verantworteten Target-Krediten zugunsten der sechs Krisenländer (Griechenland, Irland, Portugal, Spanien, Italien, Zypern) und zieht man Forderungen der Krisenländer aus einer leicht unterproportionalen Banknotenausgabe ab, kommt man auf einen Gesamtbetrag der Rettungskredite der EZB von 747 Milliarden Euro. Das ist etwa doppelt so viel wie alle schon gewährten fiskalischen und von den Parlamenten verantworteten Rettungskredite der Staatengemeinschaft zusammengenommen, die 385 Milliarden Euro betragen.
Die Kredite der Staatengemeinschaft stehen ökonomisch auf der gleichen Stufe wie die EZB-Kredite, sie kamen aber später und sind im Grunde Folgekredite zur Entlastung der EZB. Angesichts der Vorleistungen der EZB bleibt den Parlamenten gar nichts anderes übrig, als selbst eine fiskalische Rettungsarchitektur in Form des Europäischen Stabilitätsmechanismus ESM und anderer Maßnahmen nachzuschieben, denn würden sie der EZB die Anschlussfinanzierung verweigern, käme es womöglich zum Kollaps des ganzen Eurosystems. Auch das nachdrückliche Verlangen einer Rekapitalisierung der Banken mit den Mitteln des ESM, das EZB-Präsident Draghi kürzlich in einem Brief an die EU-Kommission formuliert hat, erklärt sich aus seiner panischen Angst vor den eigenen Verlusten.
Da die Target-Salden der Krisenländer schon einmal deutlich höher lagen als der heute noch vorhandene Rest von 681 Milliarden Euro, hat sich bei manchen Beobachtern das Gefühl der Entwarnung verbreitet. Sie haben sich aber vielleicht noch nicht klargemacht, dass die fiskalischen Rettungskredite der Staatengemeinschaft die Target-Salden der Krisenländer unmittelbar und in vollem Umfang tilgen und ersetzen. Das ist ein automatischer Vorgang, der aus der Natur des Target-Systems resultiert. Ohne die fiskalischen Rettungskredite der Staatengemeinschaft lägen die von den Krisenländern bezogenen Target-Kredite heute unter sonst gleichen Umständen nicht bei 681 Milliarden Euro, sondern bei 1066 Milliarden Euro.
Die Parlamente Europas stehen beim Aufbau der Rettungsarchitektur vor fast alternativlosen Entscheidungen, die schon vor Jahren vom EZB-Rat vorbereitet wurden, und wurden zu Erfüllungsgehilfen degradiert. Für mich stellt sich angesichts dieser Verhältnisse die Frage, ob die fiskalische Regionalpolitik, die hinter den verschlossenen Toren der EZB beschlossen wurde und für die es im amerikanischen Notenbanksystem keine Parallelen gibt, noch mit den Regeln der parlamentarischen Demokratie und der deutschen Verfassung vereinbar ist.